Sebastian Haffner

Geschichte eines Deutschen

Die Erinnerungen 1914 - 1933

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Was ist Geschichte? Wo spielt sie sich ab?
Liest man eine der normalen Geschichtsdarstellungen - von denen man allzuleicht vergißt, daß sie immer nur den Umriß der Dinge enthalten und nicht die Dinge selbst -, so ist man versucht zu glauben, Geschichte spiele sich zwischen einigen Dutzend Leuten ab, die gerade »die Geschicke der Völker lenken« und deren Entschlüsse und Taten dann das ergeben, was später »Geschichte« heißt. Die Geschichte des gegenwärtigen Jahrzehnts erscheint dann etwa wie eine Art Schachtournier zwischen Hitler,
Mussolini, Tschiangkaischek, Roosevelt, Chamberlain, Daladier und einigen Dutzend anderen Männern, deren Namen mehr oder weniger in aller Munde sind. Wir anderen, Anonymen, sind, so scheint es, bestenfalls Objekte der Geschichte, Bauern in einer Schachpartie, die vorgeschoben, stehen gelassen, geopfert und geschlagen werden, und deren Leben, falls sie eins haben, sich in einer ganz anderen Welt abspielt, ohne Beziehung zu dem, was auf dem Schachbrett mit ihnen geschieht, auf dem sie stehen, ohne es zu wissen.
Es mag demgegenüber paradox klingen, aber es ist nichtsdestoweniger eine schlichte Tatsache, daß sich die wirklich zählenden geschichtlichen Ereignisse und Entscheidungen unter uns Anonymen abspielen, in der Brust einer jeden zufälligen und privaten Einzelperson, und daß gegenüber diesen simultanen Massenentscheidungen, von denen ihre Träger oft selbst nichts wissen, die mächtigsten Diktatoren, Minister und Generale vollständig wehrlos sind. Und es ist ein Merkmal dieser entscheidenden Ereignisse, daß sie niemals als Massenerscheinung und Massendemonstration sichtbar werden - sowie die Masse massiert dasteht, ist sie funktionsunfähig -, sondern stets nur als scheinbar privates Erlebnis Tausender und Millionen Einzelner.
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