Der "erste Schwule der Weltgeschichte" wohnte in Achim

von Stadtarchivar
Karlheinz Gerhold

Achim (ger). "Der erste Schwule der Weltgeschichte" - so nennt ihn der Autor Volkmar Sigusch in seiner im Jahre 2000 erschienenen Biografie: Die Rede ist von dem Amtsauditor beim Gohgericht Achim der Jahre 1849 bis 1851 Karl Heinrich Ulrichs, der als Vorkämpfer und Pionier der modernen Schwulenbewegung in die Geschichte einging und sich im 19. Jahrhundert engagiert für die Gleichberechtigung der Schwulen in der Gesellschaft und vor allem für die Abschaffung der entsprechenden Strafvorschriften einsetzte. Wer war dieser Amtsauditor und spätere Bürgerrechtler und in welcher Beziehung stand er zu Achim?

Karl Heinrich Ulrichs wurde am 28. August 1825 auf dem väterlichen Gute Westerfeld bei Aurich in Ostfriesland im Königreich Hannover als Sohn des Königlich-Hannoverschen Landbaumeisters Heinrich Ulrichs geboren. Er besuchte das Gymnasium Detmold (1839 bis 1842) und das Gymnasium Celle (1842 bis 1844) und studierte anschließend Jura in Göttingen und Berlin.

Über seinen weiteren Lebensweg informiert uns Ulrichs in einem handgeschriebenen Lebenslauf des Jahres 1861 selber:

"Ich bin stets körperlich und geistig gesund gewesen, nur habe ich als kleines Kind und dann wieder 1858 an der Lungenentzündung daniedergelegen. 1858 war sie besonders heftig, so dass ich schon in der höchsten Lebensgefahr schwebte. Eine körperlich-geistige Eigenthümlichkeit an mir ist ein gewisser passiver Magnetismus der Thierwelt: welcher etwa in meinem 16. Lebensjahr zuerst sich bekundete, auf den ich selbst jedoch erst im 22. Jahr aufmerksam ward.
1848 machte ich mein Amtsauditoren-Examen mit dem Prädicat ‚perbene' oder ‚sehr wohl bestanden'. Ich ward zum Amtsauditor beim Amt Stolzenau an der Weser ernannt. Im Huldigungseid fand ich Gewissensskrupel: Daher ich denselben nur unter erheblichen Vorbehalten leistete Sept. 1848, worauf mir das Ministerium des Innern ‚anheim gab', den ‚Staatsdienst, wenn er mir nicht zusage, wieder zu verlassen', wozu ich mich jedoch noch nicht veranlasst fand.
Ich betheiligte mich als Auditor mehrfach durch Reden pp beim dortigen Volksverein, was mir viel Missfallen zuzog von Seiten meiner conservativ gesinnten Vorgesetzten, der Amtsassessoren.
Ich fand wenig Geschmack am Staatsdienst, sehnte mich vielmehr nach dem damaligen Reichsdienst, reiste daher Januar und Februar 1840 nach Frankfurt und bewarb mich bei den Reichsministern Gagern und Mohl um eine Stellung im Reichsdienst: leider vergeblich. Ich kehrte also zu meinem Staatsdienst zurück.
Frühjahr 1849 - Aug. 1851 war ich Amtsauditor zu Achim an der Weser, ging dann nach Hannover, um mein Amtsassessoren-Examen zu machen, welches ich zu Anfang 1852 bestand mit dem Prädicat ‚sehr wohl bestanden'.
Aus der mündlichen mehrstündigen Relation, die ich bei dieser Prüfung hielt, nahm das Ministerium des Innern Veranlassung, ‚in practischen Dingen mir größere Kürze und Vermeidung all zu großer Gründlichkeit zu empfehlen'.
Ich ward eingeführt etwa März 1852 als Supernumerair-Amtsassessor zu Syke (cum voto in Justizsachen und in den von mir bearbeiteten Verwaltungssachen).
Oct. 1852, als die Justiz von der Verwaltung getrennt ward, kam ich als Amtsassessor an das Verwaltungsamt Melle, Anfang 1853 in gleicher Eigenschaft an das Amt Bremervörde - bis Herbst 1853.
Ich fand fort und fort, wie 1848, das gleiche geringe Maß von Wohlgefallen am Staatsdienst, zeigte deßhalb auch wenig Eifer. Der Landdrost zu Stade vernahm mich hierüber; weshalb ich beim Justizministerium um Übertritt zur Justiz nachsuchte.
Demgemäß ward ich Herbst 1853 Hülfsrichter beim Obergericht Hildesheim cum voto, und war dem großen Senat desselben beigegeben.
Etwas besser gefiel mir diese Stellung, wenngleich auch sie mir nicht völlig Genüge leistete.
Ein Vorkommen inzwischen, welche mir, zwar nicht als Staatsbürger, wohl aber in meinen besonderen Beziehungen als Staatsdiener, unerfreulich werden konnte, veranlasste mich, Dec. 1854 aus freien Stücken um meine Entlassung aus dem Staatsdienst nachzusuchen, welche mir auch ‚auf mein Ansuchen' gewährt ward, unter stillschweigender Belassung meines bisherigen Ranges und Titels, wie die Ministerien des Innern und der Justiz dadurch noch anerkannt haben, dass verschiedene spätere Rescripte des ersteren mich Amtsassessor a.D., des letzteren aber Gerichtsassessor a.D. tituliren, wie auch meinen Anspruch auf den Titel ‚Amtsassessor' ein Urtheil des Obergerichts Zelle (1858 oder) 1859 ausdrücklich anerkannt hat.
Seitdem lebte ich in Dassel unweit Göttingen bei meinem Schwager, Pastor Grupen, und bei meiner Mutter zu Burgdorf, machte dann Frühjahr 1855 eine Erholungsreise ins Wesergebirge, ging auf einige Zeit nach Kassel, Marburg, Frankfurt, Darmstadt und ließ mich endlich Herbst 1855 auf längere Zeit in Mainz nieder, wo ich verschiedenen Wissenschaften und literarischen Arbeiten mich widmete.
Der plötzliche Tod meiner innig geliebten Mutter (2. Weihnachtstag 1856) rief mich Frühjahr 1857 nach Burgdorf zurück.
Im Sommer 1859 machte ich eine Reise nach Nürnberg, Bamberg, Würzburg, Darmstadt, Mainz, Wiesbaden und Frankfurt, und blieb hangen in Frankfurt, wo ich seit 20. Oct. 1859 wohne, mit verschiedenen Studien mich beschäftigend, namentlich mit Dichtkunst, Deutscher Mythologie und Deutschem öffentlichem Recht, und wo ich im Winter 1859/60 dem Hochstift beitrat."

Mit diesem Beitritt zum 1859 gegründeten "Freien Deutschen Hochstift für Wissenschaften, Künste und allgemeine Bildung" erhoffte sich Ulrichs, ein Forum für seine wissenschaftlichen Vorträge zu finden.

Nach seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst betätigte sich der hoch gebildete Jurist als Autodidakt und Autor historischer, juristischer und literarischer Arbeiten. Unter anderem verfasste er eine "gemeinrechtliche Darstellung des öffentlichen Rechts des Fürsten von Thurn und Taxis" (1861) und nahm Stellung zu der Frage der nationalen Einheit Deutschlands. Seit 1860 arbeitete der Jurist als freier Journalist, unter anderem für die Allgemeine Zeitung (Augsburg), für die er beispielsweise vom Allgemeinen Deutschen Schützenfest in Frankfurt 1862 berichtete. Als typischer "48er" sehnte sich Ulrichs nach einem "vereinten Deutschland unter einer gemeinsamen Flagge, der schwarz-rot-goldenen Fahne".

Der Sommer 1862 bildete in Ulrichs Leben nach den Recherchen seines Biografen Hubert Kennedy den entscheidenden Wendepunkt: Er entschloss sich, "gegen den gesellschaftlichen Makel" zu kämpfen, der der Homosexualität anhaftete, und insbesondere gegen die verschiedenen Gesetze, die homosexuelle Handlungen unter Strafe stellten, vorzugehen. Zunächst "outete" er sich seiner Familie. Dann begann er mit seinen wissenschaftlichen "Forschungen über das Räthsel der mannmänlichen Liebe" und entwickelte eine Theorie vom dritten Geschlecht, dem Mann, den er "Uranier" oder später "Urning" nannte in Abgrenzungen zu dem heterosexuellen "Dionäern" oder "Dioning". Die Begriffe leitete er aus Platons "Gastmahl" ab.

Zumindest Teile seiner Hauptschriften "Vindex" und "Inclusa" verfasste Ulrichs in Achim, wo er sich nach seiner Zeit als Amtsauditor erneut 1863 bis 1864 aufhielt. "Vindex" bedeutet "Verteidiger, Befreier, Verfechter". Der Titel "Inclusa" ("eingezwängt, eingesperrt") bezieht sich auf einen lateinischen Zweizeiler, den Ulrichs an den Anfang des Buches stellte: Sunt mihi barba maris, artus, corpusque virile; his inclusa quidem: sed sum maneoque puella. (Ich habe den Bart eines Mannes, männliche Glieder und einen männlichen Körper; zwar bin ich durch sie eingezwängt, aber ich bin und bleibe eine Frau). Ulrichs legt in Vindex den Nachweis dafür vor, "I.) dass die mannmännliche Liebe ebenso wenig Verfolgung verdient, als die Liebe zu Weibern; II.) dass sie schon nach den bestehenden Gesetzen Deutschlands gesetzlich nicht verfolgt werden kann."

Die Schriften erschienen im April und Mai 1864 im Selbstverlag in Leipzig.

Bereits am 20. Mai 1864 wurden 1128 Exemplare durch die sächsische Polizei beschlagnahmt. Wegen seiner Schriften hatte Ulrichs sich in mehreren Prozessen zu verantworten, so in Württemberg, der mit einem Freispruch endete, nachdem der Autor nachgewiesen hatte, dass er "ausschließlich wissenschaftliche Absichten" hatte.

Seine Mitgliedschaft im Freien Deutschen Hochstift wurde am 22. März 1864 aberkannt.

Karl Heinrich Ulrichs

Karl Heinrich Ulrichs (1825 bis 1895) in einer Radierung.

Im September 1865 plante er offenbar die Gründung einer Organisation, die die Interessen der Schwulen vertreten sollte. In seinem Satzungsentwurf hieß es:
"Satzungen für den Urningsbund
§ 1. Er besteht aus Mitgliedern und dem Verwaltungsrath.
§ 2. Seine Zwecke sind:
a. die Urninge aus ihrer bisherigen Vereinzelung zu reißen und sie zu einer solidarisch verbundenen compacten Masse zu vereinigen.
b. gegenüber der öffentlichen Meinung und den Organen des Staats die angebornen Menschenrechte der Urninge zu verfechten, ihnen namentlich Gleichstellung mit den Dioningen vor dem Gesetz und in der menschlichen Gesellschaft überhaupt zu vindiciren.
c. eine urnische Literatur zu gründen.
d. geeignete urnische Schriften auf Bundeskosten zum Druck zu befördern.
e. für die Zwecke der Urninge in der Tagespresse zu wirken.
f. den einzelnen Urningen, welche ihres Uranismus wegen zu dulden haben, in jeder Noth und Gefahr beizustehen, ihnen wenn thunlich, auch zu angemessener Lebensstellung zu helfen.
§ 3. Auch jedes einzelne Mitglied hat diese Zwecke nach Kräften zu fördern.
§ 4. Jeder Urning kann Mitglied sein. Nur ehrlose Gesinnung schließt aus.
§ 5. Wer in den Bund eintritt, kann fordern, dass sein Name und seine Adresse nur dem Verwaltungs-Rath bekannt werde und bleibe, auch, dass dieser beides nur in Geheimschrift verwahrt halte. Jedes Mitglied des Verwaltungs-Raths verpflichtet sich hierauf durch Ehrenwort."

Zur Gründung einer solchen Interessensvertretung kam es jedoch damals nicht.

Auch politisch nahm der Vorkämpfer für die Gleichberechtigung der Schwulen Karl Heinrich Ulrichs am Zeitgeschehen teil. Als gebürtiger "Hannoveraner" war Ulrichs entsetzt über die preußische Annexion seines Heimatlandes nach der Schlacht von Langensalza 1866. Das Königreich Hannover war dem übermächtigen Preußen nicht gewachsen gewesen. Ulrichs schreibt:

"Als 1866 die Preußen mein Heimatland besetzten, habe ich öffentliche Versammlungen abgehalten und mich dabei als Gegner der Invasion und des feindlichen Jochs sowie als treuer Anhänger des Königs von Hannover zu erkennen gegeben. Weil das den Anführer der Preußen sehr aufbrachte, sperrte er mich in eine preußische Festung. Aber ich erhielt Briefe von einem gewissen Elster, den der verbannte und vertriebene König Georg V. beauftragt hatte, mir zu schreiben. Er versicherte mir auftragsgemäß, dass der König mir Dank sage für meine einzigartige Treue, die ich ihm in dieser schweren Lage bewiesen hätte. Ebenso bezeugte mir ein gewisser Pastor Borchers im Auftrage der Königin deren Dankbarkeit."

Als antipreußischer Agitator war Ulrichs vom 4. Februar bis 20. März und vom 23. April bis 13. Juli 1867 in Minden inhaftiert worden, nachdem Haussuchungen in Burgdorf bei ihm durchgeführt worden waren:
"Als im April 1867 der preußische General von Voigts-Rheez meiner ausgesprochnen politischen Rechtsanschauung wegen mich ohne Richterspruch zum Staatsgefangenen machte und auf die Festung Minden führen ließ, wurden zugleich meine sämmtlichen Papiere aus meiner Wohnung in Burgdorf polizeilich hinweggebracht."

Im Juli 1867 verließ Ulrichs Hannover, das zwischenzeitlich preußische Provinz geworden war, und sollte es nie wieder sehen.

Die fraglos mutigste und Aufsehen erregendste Aktion des Pioniers der Schwulenbewegung Karl Heinrich Ulrichs war sein Auftritt vor dem Sechsten Deutschen Juristentag am 29. August 1867 in München. Bei Ulrichs' Biografen Kennedy lesen wir:

"Der Sechste Deutsche Juristentag traf sich vom 27. bis 30. August 1867 in München. Zwei Jahre zuvor hatte Ulrichs einen Antrag eingereicht mit der Zielsetzung, die strafgesetzlichen Bestimmungen zu homosexuellen Handlungen in den deutschen Staaten zu revidieren. Die zuständige Deputation hatte den Antrag jedoch als ‚zu einer Beratung seitens des Juristentages nicht füglich geeignet' angesehen. Ulrichs bat nun schriftlich das Präsidium des Juristentages darum, eine Rechtsverwahrung - wegen Ausschließung eines Antrags von der Tagesordnung - vor der Plenarversammlung zu verlesen und auf dem Tische des Präsidiums niederzulegen'. Diesem Wunsche wurde stattgegeben, seine Stellungnahme wurde in der abschließenden Plenarversammlung am Donnerstag, dem 29. August, aufgerufen. Ulrichs hat über die Münchner Ereignisse einen sehr ausführlichen und sehr bewegenden Bericht vorgelegt, dem die nachfolgende Schilderung im wesentlichen folgt.

Der Beginn von Ulrichs' Bericht zeigt, dass er sich der historischen Bedeutung der Münchner Ereignisse sehr wohl bewusst war:
‚Bis an meinen Tod werde ich es mir zum Ruhme anrechnen, dass ich am 29. August 1867 zu München in mir den Muth fand, Aug' in Auge entgegenzutreten einer tausendjährigen, vieltausendköpfigen, wuthblickenden Hydra, welche mich und meine Naturgenossen wahrlich nur zu lange schon mit Gift und Geifer bespritzt hat, viele zum Selbstmord trieb, ihr Lebensglück allen vergiftete. Ja, ich bin stolz, dass ich die Kraft fand, der Hydra der öffentlichen Verachtung einen ersten Lanzenstoß in die Weichen zu versetzen'."

Hier nun der Wortlaut der wesentlichen Teile von Ulrichs Rede vor dem Juristentag:

"Gerichtet ist dieser Antrag auf eine Revision des bestehenden materiellen Strafrechts, insonderheit auf die endliche Aufhebung einer speciellen, aus älteren Jahrhunderten auf uns gekommenen, ungerechten Strafbestimmung, auf die Abschaffung der in dieser Strafbestimmung liegenden Verfolgung einer schuldlosen Menschenclasse.
Es handelt sich dabei zugleich auch um Herstellung der in diesem Puncte nicht vorhandenen Rechtseinheit Deutschlands, in dem Bayern und Oesterreich, welche beide jene Verfolgung gegenwärtig verwerfen, dem übrigen Deutschland mit diametral entgegengesetzter Gesetzgebung gegenüberstehn.
Endlich handelt es sich dabei, in zweiter Linie, auch noch darum, eine bisher reichlich geflossene Quelle von Selbstmorden zu verschließen, und zwar von Selbstmorden der erschrecklichsten Art.
Ich glaube, dies sind doch sehr würdige, ernste und wichtige Gesetzgebungsfragen, mit denen sich zu beschäftigen der deutsche Juristentag recht eigentlich berufen wäre.
Es handelt sich, meine Herren, um eine auch in Deutschland nach tausenden zählende Menschenclasse, um eine Menschenclasse, welche viele der größten und edelsten Geister unserer sowie fremder Nationen angehört haben, welche Menschenclasse aus keinem andren Grunde einer strafrechtlichen Verfolgung, einer unverdienten, ausgesetzt ist, als weil die räthselhaft waltende schaffende Natur ihr eine Geschlechtsnatur eingepflanzt hat, welche der allgemeinen gewöhnlichen entgegengesetzt ist."

Dem Redebeitrag folgte unbeschreibliche Aufregung. Empörender Ablehnung stand vereinzelte Zustimmung gegenüber. Ulrichs ging seinen Weg jedenfalls unbeirrt weiter.

Sein zentrales Anliegen einer Reform der Strafgesetze hat Ulrichs nicht erreicht. Im Gegenteil: Nach dem Deutsch-französischen Krieg 1870/71 und der Bismarckschen Reichsgründung galt das norddeutsche Strafgesetzbuch für das ganze Deutsche Reich; am 1. Januar 1872 trat der § 175 in Kraft, der sexuelle Handlungen zwischen Männern ausdrücklich unter Strafe stellte.

Ulrichs zog von Würzburg nach Stuttgart, lebte dort zehn Jahre, bevor er Deutschland verließ und nach Italien übersiedelte. Von 1883 bis zu seinem Tode lebte er in Aquila in Norditalien. Dort gab er die lateinische Zeitschrift "Alaudae" heraus, widmete sich seinen Forschungen und Publikationen.

Am 14. Juli 1895 starb Ulrichs in Aquila in seinem 70. Lebensjahr.

Welche Beziehung hatte Karl Heinrich Ulrichs nun zu Achim?

Ulrichs war vom Frühjahr 1849 bis August 1851 "Amtsauditor zu Achim" als Beamter des Gohgerichts, damals noch vor der Trennung von Justiz und Verwaltung im Königreich Hannover. Der Biograf Jochen Engling hat im Staatsarchiv Stade die Personalakten gesichtet:

"Diese Akten vermitteln einerseits ein anschauliches Bild des damaligen Verwaltungshandelns. Sie berichten von der praktischen Juristenausbildung, den dienstlichen Aufgaben, von Dienstwegen und Entscheidungsbefugnissen sowie von Formalitäten und Förmlichkeiten. Zum anderen zeigen sie, dass Ulrichs zumindest bis zu seinem Ausscheiden aus dem Verwaltungsdienst im September 1853 unbesoldet blieb und für seinen Unterhalt selbst aufzukommen hatte, dass er kautionspflichtig war, also Sicherheitsleistung zur Abdeckung finanzieller Folgen eventueller Fehlentscheidungen zu stellen hatte, und dass die Auditoren und Assessoren augenscheinlich kein eigenes Dienstzimmer im Amtshaus hatten. Interessant sind auch die gelegentlichen Hinweise auf sein Privatleben.
Die folgenden Zitate werfen ein Licht auf die Persönlichkeit des jungen Karl Heinrich Ulrichs und auf seine Dienstführung. Es werden ihm ausgesprochen positive persönliche Eigenschaften bescheinigt, sein Bild als Verwaltungsjurist ist jedoch wenig günstig. Durchgehender Tenor der beiden Akten: Er ist ein gebildeter und rechtschaffener Mann, aber kaum zum Beamten geeignet. Allgemein werden seine Leistungen als unzureichend beschrieben und eine gewisse Umständlichkeit und Starrsinnigkeit kritisiert. Ulrichs bemühte sich, den Anforderungen gerecht zu werden, spürte aber selbst, dass er nicht für die Verwaltung geboren war.

‚Aus der Beurteilung Ulrichs' für das Jahr 1849:
Der seit etwa ¾ Jahren beim Gogericht Achim und vorher etwa eben so lange beim Amte Stolzenau angestellte Auditor Ulrichs scheint wissenschaftlich tüchtig, zur Zeit aber noch wenig praktisch gebildet zu sein und keine besondere Gewandtheit sich angeeignet zu haben, wie denn auch sein Eifer und seine Pünktlichkeit nicht besonders gelobt wird. Ich habe deshalb bei Gelegenheit meiner Anwesenheit in Achim (Ende October 1849) ihn, in Gegenwart der Beamten dringend ermahnt, mit regem Eifer sich seiner geschäftlichen Ausbildung zu widmen, namentlich auch mit der Administration sich bekannt zu machen. Sein Benehmen ist übrigens völlig tadellos und wurde von den Beamten gerühmt.'

Amtmann Meyer fügte einem ‚Bericht des Amtsdirectorii des Goh-Gerichts Achim vom 26ten July 1850' seine persönliche Einschätzung hinzu:
‚Darf ich diesem mein Urteil über den Amts-Auditor Ulrichs hinzufügen: so bin ich der unmaßgeblichen Ansicht:
1. dass er seine Universitätsjahre gut benutzt hat,
2. dass er sich gern theoretischen Spitzfindigkeiten hingibt und Controversen zu bearbeiten liebt,
3. dass er durchaus keinen praktischen Sinn hat in der Art, dass man annehmen muss, es fehle ihm an Auffassungs- und Beurteilungsgabe (judicium),
4. dass er sich in Sonderbarkeiten gefällt, sich ungern über die hergebrachten Geschäftsformen belehrt, oder sie befolgt, auch die Person vom Geschäfte nicht trennt,
5. dass er im geselligen Leben grade durch seine Sonderbarkeiten leicht anstößt und durch einen gewissen Eigensinn leichtere Formen im geselligen Verkehr nicht zu finden weiß.
Ob den hiesigen Beamten namentlich mir die Fähigkeit abgeht, einen Charakter wie den des Amts-Assessors Ulrichs zu behandeln, oder ob dieser, wie es uns scheint, sehr schwierig ist, wage ich nicht zu beurtheilen.
Jedenfalls wird der p. Ulrichs sich nach Lage der Sache hier zu einem tüchtigen praktischen Beamten nicht ausbilden und lange zum zweiten Examen nicht fähig sein.'

Am 10. Februar 1851 fiel Meyers Urteil nur wenig günstiger aus:
‚…haben sich sämtliche Beamte versammelt und sich über das dienstliche und außerdienstliche Verhalten des Amts-Auditors Ulrichs nach allen Richtungen besprochen, namentlich erörtert, ob der Auditor den in dem Protocolle vom 23. Juli v.J. enthaltenen Ermahnungen, Belehrungen und Andeutungen pflichtmäßig nachzukommen sich bemüht.
Das Resultat dieser Besprechungen ging dahin, dass im Allgemeinen der Auditor sich die Belehrungen, welche ihm ad prot: vom 23. Juli v.J. gegeben sind, zur Nachachtung dienen lassen und es sich nicht verkennen lasse, dass er sich bemühe denselben nachzukommen.
Namentlich erkannte man an,
1. dass seine Protocollführung sich gebessert habe, obgleich sehr häufig noch die Tendenz zu finden sei, auch das Unwesentliche darin aufzunehmen,
2. dass er sich bemühe, den Geschäftsstyl zu bessern und die Formen, wie sei eine ausgebildete Praxis mit sich bringe, sich geläufig zu machen,
3. dass er einzelne ihm zur Hand gekommene Acten genau durchzunehmen scheine, es aber allerdings zu wünschen sei, dass er sich mehr aus eigenem Antriebe in der Registratur beschäftige und sich mit den Repertorien und deren System bekannt mache.
Was 4. sein außerdienstliches Benehmen betrifft, so hatte in neuerer Zeit ein Streit des Auditors mit seinem Quartierwirth, Geometer Heitmann, einige Aufmerksamkeit erregt, und man konnte dem Auditor vorwerfen, dass er sich dabei eigensinnig und ungentil benommen. Auch war ruchbar worden, dass er in Wirthshäusern zweiten Ranges seinen Abendtisch suche.
Man fand dieses Benehmen zwar unangemessen, konnte aber sonst dem außerdienstlichen Betragen des Auditors nichts vorwerfen; da er in einem rechtlichen Bauernhause Quartier genommen und nüchtern und einschränkend lebe.
Wenn der Auditor sich in anständigen Familien nicht beliebt zu machen wisse, so glaubte man, dass er hierdurch am meisten selbst leide, es aber kein Mittel gebe, ihm gesellige Tournüre zu eigen zu machen.
Man war daher der Meinung, dass das außerdienstliche Betragen des Auditors wenigstens nicht Anstoß erregend sei, zumal nähere Erkundigungen ergaben, dass das Gerücht sein Betragen in Wirthshäusern zweiten Ranges entstellet und er diese auf einen Wink der Beamten jetzt meide…..
Darf ich noch etwas hinzufügen: So ist es die Ueberzeugung, dass der Auditor - da er sonst einen guten fond von Kenntniß hat - recht lange brauchen wird, ehe er sich zum practischen Beamten ausbildet. Er wird vielleicht, wie so mancher, erst dann dazu kommen, wenn er unter eigener Verantwortung arbeitet und dann die früher erhaltenen Lehren achten lernt.'"

Während seiner Achimer Zeit hatte der 25-jährige Ulrichs Kontakt mit Soldaten der Garnison in Verden. So beschreibt er in seinem Gedicht "Dolores" (Schmerzen) vom 17. Juni 1851 eine Begegnung mit dem Husaren Andreas:
"Hab dich zum ersten Mal gesehen,
Am Tag des Glücks, in Davern's Hain;
Den Frühling fühlt ich mich durchwehen,
Der Lenz zog mir in's Herz hinein…."

Während seiner Tätigkeit in Achim lernte Ulrichs den Obergerichtsanwalt Heinrich August Tewes aus Bremen kennen sowie dessen gleichnamigen Sohn Heinrich August Tewes jun. (1831 - 1913), mit dem ihn bis zu seinem Tode ein freundschaftliches Verhältnis verband. Tewes jun. wurde Professor für römisches Recht, später Rektor der Universität Graz.

Dessen Werk "System des Erbrechts nach heutigem römischen Recht" hat Ulrichs im Sommer und Herbst 1862 redigiert. In einem Brief an seine Schwester Ulrike schreibt Ulrichs:

"Und endlich bin ich fortwährend beschäftigt mit einer Arbeit aus Gefälligkeit für Tewes jun. in Achim, nämlich das Manuskript eines juristischen Buches für ihn vor dem Druck durchzukorrigieren, eine sehr langweilige, schwierige und langwierige Arbeit. Da schon gedruckt wird, so hat er mich in letzter Zeit noch dazu sehr gedrängt, ununterbrochen daran zu bleiben."

Schließlich weilte Ulrichs erneut in den Jahren 1863/64 in Achim, als er an seinen wichtigsten Veröffentlichungen arbeitete.

Wo genau Ulrichs damals in Achim wohnte, ist noch nicht bekannt.

Karl Heinrich Ulrichs kann nach heutiger Sicht in der Tat als Vorkämpfer für die Gleichberechtigung der Schwulen angesehen werden. Sein literarisches Werk ist durch Nachdrucke verbreitet, seine Biografie ist durch die Arbeiten von Hubert Kennedy (Karl Heinrich Ulrichs, Leben und Werk, 2001), Volkmar Sigusch (Karl Heinrich Ulrichs, 2000) und Jochen Engling (Neue Funde und Studien zu Karl Heinrich Ulrichs, 2004) gründlich aufgearbeitet.

In mehreren Städten wurde der Jurist, Journalist und Bürgerrechtler durch die Benennung von Straßen und Plätzen geehrt, so in München ("Karl-Heinrich-Ulrichs-Platz"). Im Biographischen Lexikon für Ostfriesland reihte man ihn unter die "Großen Ostfrieslands" ein. So mag es tatsächlich zutreffen, dass - wie vom Autor Magnus Hirschfeld 1899 prophezeit - "der Name von Karl Heinrich Ulrichs unvergessen" bleibt "als einer der ersten und edelsten, die in diesem Felde der Wahrheit und Nächstenliebe zu ihrem Recht verhelfen, mit Mut und Kraft bemüht gewesen sind."
Ob auch in Achim bei passender Gelegenheit eine Straße nach Ulrichs benannt wird, ist Sache des Rates der Stadt Achim.

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