Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Achim, von den Anfängen bis zur Vernichtung.
1844 Gründung der Synagogengemeinde Achim
1855 Einrichtung einer jüdischen Elementarschule mit eigenem Unterrichtsraum. Lehrer: Alexander Seligmann, ab 1878 David Erle.
1864 Elias Alexander errichtet auf seinem Grundstück an der Obernstraße eine Synagoge. Größe: ca. 140 m² mit einer Empore für Frauen.
1865 Moses Alexander kauft ein Grundstück in Achim für einen gemeindeeigenen Friedhof.
1867 Erste Beerdigungen auf dem jüdischen Friedhof.
1873-1917 Adolf Rothschild unterrichtet an der jüdischen Elementarschule.
1900 Der jüdische Friedhof wird von Unbekannten verwüstet; Grabsteine und Inschriften werden zerstört.
1907 Errichtung eines Schulhauses mit Wohnung für die Lehrerfamilie.
1924 Gründung der NSDAP-Ortsgruppe Achim.
1924 Die jüdische Elementarschule wird wegen stark gesunkener Schülerzahl und fehlender finanzieller Mittel geschlossen.
1935 Adolf Rothschild erteilt jüdischen Religionsunterricht an der örtlichen Volksschule.
12.12.1931 Siegfried Heilbronn wird zum Synagogenvorsteher und Rechnungsprüfer gewählt.
1932 Familie Anspacher überschreibt der Gemeinde die Synagoge.
Ab 1933 Wirtschaftliche und gesellschaftliche Ausgrenzung der Juden. Deshalb verlassen etliche Achim.
1936 Jüdischer Religionsunterricht wird verboten.
9./10.11.1938 Zerstörung der Synagoge (Gebäude und Inneneinrichtung) in der Pogromnacht,
Schließung jüdischer Geschäfte, für Juden Berufsverbote, Schulverbot, Verbote, öffentliche Einrichtungen und Anlagen zu nutzen, systematische Vertreibung und Deportationen.
1939 Achimer Farbenhändler kauft das Grundstück mit Ruine für 1200 Reichsmark und lässt die gröbsten Schäden beseitigen.
1943/1944 Umbau des Synagogengebäudes zu einem Lagerraum mit Dachboden und Büro.
1944 Französische Kriegsgefangene werden in früherer Synagoge untergebracht.
1945 Der verwüstete jüdische Friedhof wird wieder hergerichtet.
1947/1948 Ermittlungen gegen 7 SA-Männer wegen der Verbrechen in der Pogromnacht. Nur ein Täter wird in letzter Instanz verurteilt.
5.7.1951 Wiedergutmachungsamt trägt Rückerstattungsanspruch zur Synagoge im Grundbuch ein.
1951-1955 Langer Rechtsstreit um Grundstück und Gebäude der Synagoge.
1955 Schändungen auf dem jüdischen Friedhof.
1959 Pauschalabfindung zwischen dem Land Niedersachsen und jüdischen Verbänden.
1965 Die Stadt Achim übernimmt die Pflege des jüdischen Friedhofs.
1968 Schändungen auf dem jüdischen Friedhof.
1986 Farbenhändler verkauft Synagogen-Grundstück mit Gebäude an die Niedersächsische Landesentwicklungsgesellschaft (NILEG), Sanierungsträger der Stadt Achim im Rahmen der Stadtsanierung.
Danach Abriss des einstigen Synagogengebäudes
9.11.1988 Schweigemarsch vom jüdischen Friedhof zum einstigen Synagogenstandort, Präsentation einer Gedenktafel.
1989 Ein neuer kleiner Stichweg zur Obernstraße erhält den Namen „Synagogenweg“;
eine weitere neue Straße wird nach der Familie Anspacher benannt.
1990 Der Achimer Stadtrat beschließt die Errichtung eines Mahnmals.
21.5.1990 Einweihung des Mahnmals mit Gedenktafel.
Seitdem Bauhof muss die Tafel mehrfach reinigen.
2008 Die Gedenktafel wird aus der Verankerung gerissen und gestohlen. Die Stadt lässt eine neue Tafel einsetzen.
2013 Die schützende Plexiglasscheibe vor der Tafel wird mutwillig zerschlagen; die Stadt lässt eine neue Scheibe einsetzen.
2024/2025 Ein Arbeitskreis bildet sich und entwirft eine zweite Gedenktafel. Sie ist informativer und führt die Opfer während der NS-Diktatur namentlich auf.
8.Mai.2025 Einweihung der neuen Gedenktafel mit Wortbeiträgen und Musik am 80. Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg.
Margarete (1888–1942) und Paul Alexander (1884–1942)
Die Familie Alexander lebt seit 1746 als älteste jüdische Familie in Achim. Paul Alexander führt den Die Mühlenbetrieb und den Getreide- und Futterhandel seiner Familie weiter. Sie haben zwei Kinder: Peter(1914-1942) und Lotte (1924-1942). Die Kinder besuchen die Volksschule am Markt. Im Mai 1937 verkauft Paul Alexander seine Anbauerstelle und zieht mit der Familie nach Bremen.
Die Familie wird 1941 ins Ghetto Minsk verschleppt und dort ermordet.
Emma (1906–1942) und Albert Anspacher (1887–1942)
Albert Anspacher ist im Viehhandel tätig. Er und sein minderjähriger Sohn Kurt (geb. 1924) werden 1938 in der Pogromnacht wie die anderen männlichen Juden aus Achim nach Bremen verschleppt. Während Kurt am nächsten Tag nach Hause kommt, muss Albert noch für einige Zeit in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Kurt besucht die Achimer Volksschule und die Mittelschule, bis ihm 1938 der Schulbesuch verboten wird.
Die Familie wird 1941 nach Minsk deportiert. Während Emma und Albert ermordet werden, muss Kurt noch zehn Konzentrationslager erdulden, bis er 1945 krank aus dem KZ Dachau entlassen wird. Er wandert nach Amerika aus, ändert dort seinen Namen in Curt Parker und stirbt 2012 in den USA.
Margarethe(1906–1942) und Paul Anspacher (1895–1942)
Paul ist ein Bruder von Albert und Carl Anspacher und arbeitet mit ihnen zusammen im Viehhandel bis zum Berufsverbot im Jahre 1938. Er wird 1934 in Achim verhaftet, weil er die arische Abstammung eines Nationalsozialisten angezweifelt hatte, wurde wegen seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg aber „nur“ zu einem Monat Gefängnis verurteilt.
Margarethe und Paul Alexander werden im Ghetto Minsk ermordet.
Lilli (1897-1942) und Carl Anspacher (1891-1942)
Carl Anspacher übernimmt von seinem Schwiegervater Adolf Pels den Pferdehandel und ist der letzte Synagogenvorsteher in Achim. Carl und Lilli haben zwei Kinder: Günter und Liesel.Liesel (1924-1942) geht in Achim zur Schule und besucht bis 1938 die Mittelschule. Ab diesem Zeitpunkt ist es allen jüdischen Kindern verboten, weiter zur Schule zu gehen. 2016 wird die Achimer Hauptschule nach ihr benannt. Jetzt steht ein Gedenkstein mit ihrem Namen an der Integrierten Gesamtschule in Achim.
Günter (geb. 1922) wird ebenfalls ins Ghetto nach Minsk gebracht. Von dort soll er mit einer russischen Widerstandskämpferin geflüchtet sein. Genaue Infos über sein Schicksal sind nicht bekannt. Wegen seiner Flucht werden alle Anspachers am nächsten Tag ermordet; nur Kurt Anspacher überlebt.
Emma Baumgarten (1881–1942)
Ihre Familie ist im Braugewerbe tätig und wohnt in der Brauerstraße. 1937 verkauft Emma, die zu der Zeit allein in Achim lebt, das Haus an die Gemeinde Achim. Dort entsteht später das Gemeinschaftshaus der NSDAP in Achim.
Emma wird ins Ghetto Theresienstadt deportiert und dort ermordet.
Lina (1868-1942) und Louis Friedemann (1871-1942)
Lina und Louis kommen 1913 nach Achim. Vater und Sohn Ernst(1899-1942) sind Kaufmänner. Sie werden zusammen mit Louis Ehefrau Lina und der Tochter Ilse Löwenthal, geb. Friedemann (1904-1942) im Ghetto Minsk ermordet.
Lucie (1903–1942) und Erich Harf (1905–1942)
Die Familie ist von 1930 an in Achim angesiedelt. Sie haben zwei Söhne: Hans Günther (1931–1942) und Martin Samuel(1931 – 1942). Erich Harf arbeitet im Viehhandel.
Die Familie wird im Ghetto Minsk ermordet.
Mathilde (1882–1940) und Siegfried Heilbronn (1881-1948)
Die Familie Heilbronn siedelt sich 1879 in Achim an. Sie haben eine Schneiderei und ein Manufakturgeschäft. Siegfried Heilbronn wird während des Ersten Weltkrieges mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse ausgezeichnet. Das Ehepaar hat vier Kinder: Paula(*1911), Hans (*1913) und Kurt(*1914) und Rosi(*1918). 1933 wird auch dieses jüdische Geschäft von den Nationalsozialisten boykottiert.
Kurt Heilbronn wandert 1934 nach England aus. Ihm folgt der Bruder Hans 1937. Rosi heiratet 1938 in Bremen Willi Podell (*1912-?). Rosi und Paula flüchten mit ihren Ehemännern in die USA. Mathilde und Siegfried fliehen 1939 nach Manchester. Dort stirbt Mathilde. Siegfried setzt die Flucht nach Amerika fort, wo er 1948 stirbt.
Hermann Kaufmann (1874-?)
Hermann Kaufmann kommt 1925 nach Achim, weil er von der hiesigen Synagogengemeinde als Lehrer und Vorbeter angestellt wird. 1936 verbieten die Nationalsozialisten den Unterricht an der Marktschule.
1939 verlässt Kaufmann Achim und zieht nach Siegburg. Sein Schicksal ist unbekannt.
Adolf Pels (?)
Seine Familie zieht 1868 nach Achim. Sie betreibtdas Gewerbe der Fleischerei. Adolf übergibt sein Geschäft in den 30er Jahren an seinen Schwiegersohn CarlAnspacher und wandert nach Amerika aus.
Jenny (1888–1942) und Albert Seligmann (1869–1942)
Albert heiratet 1894 Jenny Alexander. Sie haben zwei Söhne: Hugo (1895-1915) und Wilhelm. Albert übernimmt die Schlachterei seines Schwiegervaters Jacob Alexander und ist 1913 bis 1932 Obermeister der Schlachterinnung des Kreises Achim. Er dient mit seinem Sohn Hugo als Soldat im Ersten Weltkrieg. Hugo stirb in diesem Krieg. Albert tritt der Deutschen Demokratischen Partei bei. Er wehrt sich mehrmals gegen die Schikanen der Nationalsozialisten.
Sein Sohn Wilhelm ist im örtlichen Fußballverein integriert. Er heiratet und bekommt mit seiner Frau Selmaeine Tochter: Johanna. Sie wird von anderen Kindern als „Judensau“beschimpft und mit Steinen beworfen. Daraufhin flüchtet die Familie 1938 in die USA.
Albert und Jenny Seligmann werden 1942 in das Ghetto Theresienstadt verschleppt und später im Vernichtungslager Treblinka ermordet.
Edith Bielefeld
Quellen:
Beermann, G. u. a.: Jüdisches Leben in Achim, Achim 1994
Voß, Andreas: Die jüdische Gemeinde in Achim, Achim 2004
Kleiner Hinweis auf den historischen Ort. Thora-Rollen. Die Gedenkstätte nach dem 8. Mai 2025.
Drei Mauern aus Basaltsteinen, ein Ziegelstein mit einem zerbrochenen Davidsstern und eine Gedenktafel erinnern an das einstige jüdische Gotteshaus in Achim . In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die Synagoge von einem braunen Mob zerstört. In diesem ersten von zwei Teilen geht es um den Bau und die Ausstattung der Achimer Synagoge sowie um ihre Zerstörung und den Verkauf in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Zweimal im Jahr erwacht der unscheinbare kleine Platz am Synagogenweg/Ecke Anspacherstraße zum Leben. Dann versammeln sich viele Achimerinnen und Achimer dort, wo früher die Synagoge stand. Am 27. Januar erinnern sie an die Befreiung des Vernichtungslagers in Auschwitz, und am 9. November gedenken sie der Gräueltaten in der Reichspogromnacht.
Die jüdische Gemeinde errichtet eine Synagoge
Achim hatte einst eine jüdische Gemeinde mit einer eigenen Synagoge. Das ist ein Gebäude, das der Versammlung, dem gemeinsamen Gottesdienst und oft auch als Lehrhaus und als Ort für soziale und kulturelle Veranstaltungen dient. Der Synagogenbezirk Achim wurde 1844 gebildet und Alexander Seligmann zum Gemeindebeamten ernannt. Er war zugleich Vorbeter, Religionslehrer und Schächter, also ritueller Schlachter. Zu dieser Zeit umfasste die Gemeinde sechs Familien mit insgesamt 35 Personen, und es begann ein geregeltes Gemeindeleben.
In den 1860er Jahren war die Gemeinde auf zehn jüdische Familien angewachsen, und eine eigene Synagoge
und ein Friedhof wurden angelegt. Für einen jüdischen Gottesdienst waren damals mindestens zehn im religiösen Sinne mündige Männer jüdischen Glaubens vorgeschrieben. Möglich wurde der Bau durch eine Spende von Elias Moses Alexander. Die Familie Alexander lebte als älteste jüdische Familie seit 1746 in Achim. Die Synagoge befand sich auf seinem Grundstück an der Obernstraße und bekam die Hausnummer 265 b.
Auf dem Grundstück von Elias Moses Alexander
Über das Baujahr der Synagoge gibt es unterschiedliche Angaben. Im „Historischen Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen“ wird als Baujahr 1864 genannt. Im Verdener Kreisarchiv befindet sich die „Achimer Häuserliste bis etwa 1946“. Darin heißt es: „1865 – Ein Nebengebäude der Alexanderschen Stelle wird zur Synagoge ausgebaut.“ In einem Schreiben der Entschädigungsbehörde vom 17.1.1955 heißt es, die Ermittlung des Baujahres sei nicht möglich gewesen und deshalb wurde das „Baujahr 1890 zugrunde gelegt“. Am 27.9.1957 schrieb hingegen die Stadt Achim: „Das genaue Baujahr der Synagoge konnte (auch durch Nachfrage bei älteren Achimer Bürgern) nicht festgestellt werden. Festgestellt wurde jedoch, dass die Synagoge vor mehr als 80 Jahren erbaut sein muss.“
Ein Fachwerkgebäude mit Empore
Das Gotteshaus wurde inoffiziell „Scheune mit Synagoge“ genannt. Auch wenn das Gotteshaus von außen eher unscheinbar gewesen sein soll, so zeugte es doch vom Selbstbewusstsein der Gemeinde, die ein sichtbarer Teil der Gesellschaft sein wollte. In dieser Zeit kamen immer mehr jüdische Familien nach Achim, und jüdisches Leben wurde zu einem Teil der Stadt. Bis 1875 wuchs die Gemeinde auf 67 Personen. Im Jahr 1913 waren 70 von 3682 Einwohner Achims jüdischen Glaubens. Das entsprach zwei Prozent der Bevölkerung, weit mehr als im Durchschnitt des Deutschen Reiches.
Die Synagoge befand sich in einem Fachwerkgebäude und war 16,40 m lang, 8,50 m breit und 3,90 m hoch. Das ergibt eine Fläche von etwa 140 m² und einen umbauten Raum von 540 m³. Die Höhe des Gebäudes spricht dafür, dass es eine Empore für die Frauen gab.
Über die Einrichtung und die Ausstattung der Achimer Synagoge gibt es keine Informationen. Im Rahmen der Wiedergutmachung in den 50er Jahren wurde jedoch vom Niedersächsischen Innenministerium „die Mindestausstattung zugrunde gelegt, die auch die kleinste Gemeinde gehabt haben muss“, um einen Gottesdienst abhalten zu können. Für die Zahl der Synagogenplätze wurden die Maße des Raumes und die üblichen Maße je Platz (1 m x 0,75 m) berechnet. Danach gab es in Achim 64 Sitze mit Pulten für Männer, 24 Sitze für Frauen auf der Empore, einen Thoraschrein mit zusätzlichem Altaraufbau, ein Podium mit Vorbeterpult und Sitzbank sowie einen Kronleuchter und Wandbeleuchtungen.
Dazu verfügte jede Gemeinde über Kultgegenstände. Besonders wichtig waren die Thora-Rollen. In Achim soll es drei solcher jüdischen Bibeln gegeben haben. Auf einer Thora-Rolle sind die fünf Bücher Mose in hebräischer Schrift von Hand und mit Tinte aufgeschrieben. Bei jedem Gottesdienst wird daraus vorgelesen. Dazu gab es Thoraschmuck und ein Megillah-Ester (hebräisches Buch der Bibel).
Außerdem gehörten zur üblichen Ausstattung zwei Altarleuchter, eine ewige Lampe, ein Chanukkah-Leuchter, ein Weinbecher, ein Schofar-Horn (orientalisches Blasinstrument), ein Trauhimmel und Behänge.
Ausgrenzung, Boykottmaßnahmen und antisemitische Gewalt
Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde waren seit vielen Jahren in Achim vielfältig engagiert, z.B. in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), in Sport- und Schützenvereinen und in der Ortsfeuerwehr. Paul Alexander war in den 20er Jahren Synagogenvorsteher.
Die antisemitische und völkische NSDAP wurde 1919 in München gegründet und entwickelte sich schnell von einer politischen Sekte zu einer „Bewegung“. So gab es in den 20er Jahren auch in Achim erste antisemitische Übergriffe: 1924 wurde das Kriegerdenkmal auf dem jüdischen Friedhof mit Hakenkreuzen beschmiert. In diesem Jahr wurde in Achim die erste NSDAP-Ortsgruppe im Landkreis Verden gegründet, deren Mitglieder wenig später durch den Ort zogen und dabei antisemitische Lieder sangen. 1928 lebten noch 10 jüdische Familien mit 61 Personen in Achim.
Anfang der 30er Jahre begann die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ausgrenzung der Menschen jüdisches Glaubens. Zu dieser Zeit war der Kaufmann Siegfried Heilbronn Vorsteher und Rechnungsführer der Synagogengemeinde. 1932 überschrieb die Familie Alexander der Gemeinde schließlich die Synagoge.
Achims Wirtschaft wird „judenfrei“
Am 31.1.1933, dem Tag der Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler, organisierten die Nationalsozialisten in Achim einen Fackelzug. Wenig später kam es seitens der NSDAP-Ortsgruppe Achim zu antisemitischer Gewalt und zu gezielten Boykott-Maßnahmen gegen jüdische Bürgerinnen und Bürger. Die Nationalsozialisten hatten am 1.4.1933 aufgerufen zum landesweiten Boykott jüdischer Geschäfte, Warenhäuser, Banken, Arztpraxen, Rechtsanwalts- und Notarkanzleien. Das führte dazu, dass in Achim jüdische Geschäfte schließen mussten und die Eigentümer den Ort verließen. So verringerte sich die Zahl der Menschen jüdischen Glaubens im Jahr 1933 auf 33 Personen.
Bei der Neuwahl der Gemeindevertretung am 12.3.1933 wurde die NSDAP im Kreis Verden stärkste Fraktion. In Achim bekam die NSDAP sogar fast 50 Prozent der Stimmen, und es wurde „Judenliteratur“ verbrannt. In den Folgejahren wurde der jüdische Religionsunterricht zunehmend erschwert und 1936 aus den öffentlichen Schulen verbannt.
Als erster Achimer Jude wanderte 1934 Kurt Heilbronn, der jüngere Sohn des Textilhändlers, nach England aus. 1937 verkaufte der Vater sein Geschäft und flüchtete mit seiner Familie in die USA. Mitte des Jahres 1938 war Achims Wirtschaft „judenfrei“.
Zerstört, entweiht und zerhackt
1938 organisierte das NS-Regime eine neue Phase der Gewalt gegen Jüdinnen und Juden im Deutschen Reich. Das Attentat am 7. November 1938 auf den Legationsrat der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, durch einen 17-jährigen polnischen Juden wurde zum Anlass für ein gegen die Juden gerichtetes Pogrom genommen, einen staatlich angeordneten Terror bisher nicht gekannten Ausmaßes. Die Pogrome markierten den Übergang von der Diskriminierung hin zur systematischen Vertreibung. Während der Novemberpogrome wurden im Deutschen Reich etwa 1400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume jüdischer Menschen zerstört.
Die Synagoge in Achim wurde in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November geschändet und verwüstet. Die Seitentüren und die Einrichtung wurden mit Brecheisen, Beilen und Äxten komplett zerstört. Das Mobiliar wurde zerhackt und als Brennholz mitgenommen. Die Synagoge selbst wurde nicht abgefackelt, weil sich neben der Synagoge ein Lagerschuppen mit Teerprodukten, Ölen und Fetten befand. Der Besitzer des benachbarten Gebäudes „Gieschen’s Hotel“ hatte Sorge, dass ein Feuer die gesamte Nachbarschaft gefährden könnte. Über die Vorgänge berichtete das Achimer Kreisblatt am Folgetag in einer an Schärfe und Diskriminierung kaum zu übertreffenden Weise:
„Vor der hiesigen Synagoge hatte sich eine empörte Menge angesammelt. In wenigen Augenblicken war dies verfluchte Symbol Jehovas, das Prinzip des ewigen Bösen zerstört. Es wäre wahrscheinlich in Flammen aufgegangen, wenn nicht für die unmittelbar angrenzenden Häuser Gefahr bestanden hätte. Von dem flammenden Zorn unserer Achimer Volksgenossen erhält man ein Bild, wenn man die Überreste dieses schmierigen Judentempels sieht: Es blieb buchstäblich kein Stück aufeinander.“
Der spätere Eigentümer Friedrich Wilhelm Braun gab am 15.8.1953 bei einem Ortstermin mit einem Gutachter an, dass die Synagoge „in der Kristallnacht der Zerstörung durch Feuer entgangen, aber schwer beschädigt worden war, das Dach teilweise durch Steinwurf, Fenster und Türen durch Axtschläge“. Er selbst hatte sein Wohnhaus direkt hinter der Synagoge und war Augenzeuge, wie in den Gerichtsprotokollen zu lesen ist.
Verkauf von Grundstück mit Ruine
Am 16.1.1939 verkaufte die Synagogengemeinde das Grundstück samt Ruine für 1200 Reichsmark an den Achimer Kaufmann F. W. Braun. Der Kaufvertrag wurde in Verden beim Notar Ernst Vogel von Carl Anspacher als Vorsitzender der Synagogengemeinde Achim unterzeichnet. Darin heißt es: „Der Grundbesitz wird so verkauft, wie er sich zur Zeit befindet.“ Am 30.9.1939 wurde F. W. Braun als Eigentümer ins Grundbuch eingetragen.
Der örtliche Farbenhändler Braun wollte das Gebäude als Lagerraum nutzen. Dafür musste er zunächst die gröbsten Schäden beseitigen, die in der Pogromnacht entstanden waren. Das Dach reparierte er nach eigenen Angaben selbst. Die Außentür und ein Fenster wurden zugemauert, ein Fenster erneuert und ein anderes instandgesetzt.
Umbau zu einem Lagerraum mit Büro
Anfang der 40er Jahre verließen mit Jenny und Albert Seligmann die letzten Menschen jüdischen Glaubens die Stadt Achim. Sie lebten zunächst vier Monate in einem „Judenhaus“ in Bremen. Am 23.7.1942 wurden sie nach Theresienstadt deportiert, wo sie vermutlich verhungerten oder an einer Seuche starben.
1943 ließ Braun schließlich den einstigen Synagogenraum umbauen. Ein 13,4 m² großer „Kontorraum“ (Büro) wurde vom Lagerraum mit einer gemauerten Trennwand und einer Tür darin abgetrennt. Der Raum bekam einen Zementfußboden, und in Höhe der Empore wurde eine Decke eingezogen. Eine Holztreppe führte zum Bodenraum, der durch eine kleine Öffnung (1 m x 1 m) zu erreichen war. Ein weiteres Fenster wurde zugemauert, und vier Fenster wurden zur Sicherung gegen Einbruch vergittert. Außerdem wurde ein neuer über acht Meter hoher Schornstein errichtet.
1944 wurden nach Angaben von Joachim Woock in dem Gebäude französische Kriegsgefangene untergebracht. Als Quelle nennt er die Magisterarbeit von Axel Köhler über Zwangsarbeit im Nordkreis.
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Ralph Spill
Literatur/Quellenverzeichnis:
• Hermann Deuter/Joachim Woock: Es war hier, nicht anderswo! Der Landkreis Verden im Nationalsozialismus. Edition Temmen, 2016.
• Niedersächsisches Landesarchiv, Abteilung Stade: Akten im Rahmen der Rückerstattung des betreffenden Grundstücks bzw. der Wiedergutmachung für die Vertreter der ehemaligen jüdischen Gemeinde, NLA ST Rep. 171 Verden Rückerstattung, acc. 2009/087 Nr. 787 (ca. 110 Blatt, z. T. beidseitig beschrieben) sowie NLA ST Rep. 210 Nr. 1807 (ca. 60 Blatt, z. T. beidseitig beschrieben). Vielen Dank an Dr. Thomas Bardelle und Team
• Karlheinz Gerhold, Geschichtswerkstatt Achim: Achim in der Zeit des Faschismus.
• Wolfgang Griep: Verfolgt, vertrieben, vernichtet. Zur Geschichte er Achimer Juden im Dritten Reich.
• Familiendatenbank Juden. https://www.genealogienetz.de/genealogy
• Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum. Achim (Niedersachsen)
• Herbert Obenaus: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen“, Band I, 2005, Wallstein Verlag
• Ulrich Budler, Achim 2017: Achimer Häuserliste bis etwa 1946, S. 212
• Diverse Zeitungsartikel aus Achimer Kreisblatt und Weser Kurier
Zerbrochener Davidstern. Die Reste der Synagoge werden abgerissen. Einweihung der Gedenkstätte an der alten Synagoge 1988
Bis zum Jahr 1988 wiesen in Achim keine Gedenkstätte, keine Gedenktafel und kein Straßenschild auf das Schicksal der Opfer in der Nazi-Diktatur hin, Obwohl Achim in den 30er Jahren eine Hochburg der NSDAP war. Das änderte sich erst am 50. Jahrestag der Reichspogromnacht. In diesem Artikel geht es um die Geschehnisse rund um die Achimer Synagoge nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zu einer zweiten Gedenktafel am Mahnmal.
Die Synagoge in Achim wurde in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 geschändet und verwüstet. Die Seitentüren und die Einrichtung wurden von SA-Leuten komplett zerstört. Das Mobiliar wurde zerhackt und als Brennholz mitgenommen. Die Synagoge selbst wurde nur deswegen nicht angezündet, weil ein Feuer die gesamte Nachbarschaft gefährdet hätte. 1939 verkaufte die Synagogengemeinde das Grundstück samt Ruine für 1200 Reichsmark an den Achimer Kaufmann Friedrich Wilhelm Braun.
1948 wurde mit Zementplatten ein schmaler Weg zur Straße gebaut: 14 m lang und 0,50 m breit. Im darauffolgenden Jahr wurde die direkt an die Synagoge angebaute Scheune abgerissen, eine neue Giebelwand errichtet, und zur Straße hin kam ein Vorbau dazu: 1,90 breit, 2 m lang und 2,65 m hoch.
Nur ein Täter wird bestraft
Mit den schweren Verbrechen in der Pogromnacht befasste sich die Justiz ab 1947. Der Entnazifizierungsausschuss des Kreises Verden erstattete am 11.4.1947 bei der Staatsanwaltschaft am Landgericht Verden „Anzeige gegen Unbekannt wegen Raub, Diebstahl, Plünderung, Sachbeschädigung etc. jüdischen Vermögens in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 in Achim“. Es wurde ein Verfahren eingeleitet gegen die Männer, die maßgeblich an der Zerstörung der Synagoge beteiligt waren und jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger drangsaliert und verhaftet hatten. Als Haupttäter wurden angeklagt der ehemalige SA-Obersturmführer Wilhelm Eicke aus Bremen und der Achimer Wilhelm Eggert, einst Führer des SA-Reitersturmes. Nach langer Ermittlungszeit wurde am 23.9.1948 das Verfahren vor dem Schwurgericht Verden gegen Eicke, Eggert und fünf weitere Achimer SA-Männer eröffnet und am darauffolgenden Tag wurden die Urteile gefällt. Keinem der stark verdächtigen Angeklagten konnte die Beteiligung an der Zerstörung der Synagoge nachgewiesen werden.
Das Schwurgericht verurteilte schließlich in letzter Instanz nur Wilhelm Eicke. Der Bremer wurde wegen schweren Landfriedensbruchs, räuberischer Erpressung, Freiheitsberaubungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Alle anderen Täter kamen straffrei davon. In der Urteilsbegründung führte der Richter aus, dass auf der Anklagebank nicht die wirklichen Drahtzieher, sondern „nur die kleinen Sünder“ säßen.
Ein langwieriger Rechtsstreit
In den 50er Jahren begann ein jahrelanger Rechtsstreit um das Grundstück und das Gebäude. Am 5.7.1951 trug das „Wiedergutmachungsamt am Landgericht Verden“ für die Synagogengemeinde einen Rückerstattungsanspruch ins Grundbuch ein. Als „Antragsgegner“ wird Kaufmann Braun genannt mit der Begründung: „Die Entziehung erfolgte durch Kaufvertrag vom 16.1.1939.“ Daraufhin beauftragte Braun den Achimer Rechtsanwalt Dr. Ulrich am 31.3.1952 mit der Vertretung seiner Interessen. Dieser erhielt Prozessvollmacht und legte sogleich Widerspruch ein, und das Verfahren nahm seinen Lauf.
Der Verein „Die aus Theresienstadt e.V.“ mit Sitz in Hamburg wurde als „Interessenvertretung der aus rassischen Gründen Verfolgten und Geschädigten deutscher Staatsangehörigkeit“ zugelassen. Er begründete am 14.6.1952 seinen Antrag auf Rückerstattung von Vermögen: „Die Wegnahme bzw. der Verkauf fand in jedem Fall unter Zwang statt. Soweit Entschädigung geleistet, wurde sie vom Reich gesperrt und beschlagnahmt, kam also effektiv nicht zur Auszahlung.“ Als Rechtsnachfolger dieses Vereins fungierte für alle jüdischen Organisationen im Bereich der früheren britischen Besatzungszone die „Jewish Trust Corporation for Germany“ (JTC) mit Sitz in Hamburg. Die internationale Organisation war anerkannt und somit berechtigt, die Entschädigungsansprüche geltend zu machen.
Vergleichsverhandlungen scheitern
Am 9.1.1953 bemühte sich das Wiedergutmachungsamt am Landgericht Verden um einen Vergleich und fragte, „ob der Antragsgegner bereit ist, den Rückerstattungsanspruch durch Zahlung einer Vergleichssumme abzuwenden oder ob er den Rückerstattungsanspruch anerkennen will“. Falls er das Grundstück behalten wolle, solle er eine Vergleichssumme vorschlagen und begründen.
Im Sommer 1953 wechselte der Achimer Farbenhändler den Rechtsanwalt. Er erteilte Dr. Robert Dyckerhoff, einem Rechtsanwalt und Notar aus Hannover, die Prozessvollmacht. Es kam wieder zu Vergleichsverhandlungen und die Wiedergutmachungskammer gab beim Sachverständigen, Baurat Georg Hoff aus Hildesheim, ein Gutachten in Auftrag. Dieser erstellte ein 13seitiges Gutachten und bezifferte abschließend den Wert des Grundstücks auf 4534 DM und den Gebäudewert auf 3952 DM. Zudem schätzte er, dass der Wert des Gebäudes durch die Baumaßnahmen um 1426 DM gesteigert worden war.
1954 scheiterten die Vergleichsverhandlungen endgültig. Am 21.12.1954 schrieb die JTC:
„Wir bestreiten nach wie vor, dass der Gegenseite der Nachweis gelungen ist oder gelingen kann, dass der Verfolgte (also Carl Anspacher) zu den verschiedensten Zeiten und und aus den verschiedensten Gründen die Absicht hatte, sein Grundstück zu verkaufen. Er hat es aber nicht getan und diesen Verkauf erst im Februar 1938 vollzogen, nachdem aus einem kleinen Ort wie Achim nach der Aussage des Zeugen Lindhorst fast alle Juden zwangsweise von Haus und Hof vertrieben worden waren.
Es ist leider in Vergessenheit geraten, wie die nationalsozialistische Bewegung nach den Nürnberger Gesetzen besonders in kleinen Städten vorging. Es war die Pflicht jedes Gauleiters und der ihm untergeordneten Beamten alles zu tun, um möglichst bald melden zu können, daß ihr Bezirk oder ihre Stadt oder ihr Dorf „judenrein“ sei. … Der Verfolgte und seine Frau (Carl und Lilli Anspacher) entschlossen sich deswegen in letzter Stunde, das Haus zu verkaufen und in eine größere Stadt, nämlich Bremen, zu ziehen, um den Verfolgungsmaßnahmen in Achim zu entgehen.“
Abschließend wies die JTC darauf hin, dass bei einer Zahlung von 8.000 DM auf eine Rückerstattung verzichtet würde. Am 6.7.1955 wurde schließlich die JTC aus dem Grundbuch gelöscht und der Farbenhändler Braun eingetragen.
Ab 1955 wurden unabhängig von den Entschädigungsansprüchen der jüdischen Gemeinde Achim Verhandlungen mit der Bundesregierung und dem Land Niedersachsen über eine Pauschalabfindung geführt.
Land Niedersachsen zahlt Pauschalabfindung
Am 5.1.1959 kamen die Verhandlungen zum Abschluss und zu einem Vergleich zwischen dem Land Niedersachsen auf der eine Seite und der JTC, dem Landesverband der jüdischen Gemeinden Niedersachsen und dem Zentralrat der Juden in Deutschland auf der Gegenseite. Darin heißt es: „Zur Abgeltung aller Ansprüche auf Entschädigung für
1. die Zerstörung und Beschädigung von Synagogen und sonstigen Gebäuden,
2. die Zerstörung, Beschädigung, Plünderung und sonstigen Verluste an Synagogeneinrichtungen, Kultgegenständen und profanen Ausstattungsgegenständen, die Eigentum der früheren jüdischen Kultusgemeinden im Bereich des Landes Niedersachsen waren, zahlt das Land Niedersachsen eine Entschädigung von insgesamt 9.450.000 DM.
Die JTC hatte als Entschädigung für die ehemalige Synagogengemeinde Achim angemeldet:
Gebäudeschaden: mindestens 15.400 DM
Einrichtungsschaden: mindestens 4.100 DM
Schaden an Kultgegenständen: mindestens 21.950 DM.
Für das Gebäude wurden wegen eines Rückerstattungsverfahrens nur 6.500 DM anerkannt. Die Entschädigungsbehörde schlug einen Vergleich vor. Statt 41.450 DM sei sie bereit, 30.000 DM zu zahlen.
Zur Errichtung eines Mahnmals
1986 verkaufte Braun das Grundstück samt Gebäude an die Niedersächsische Landesentwicklungsgesellschaft (NILEG). Die norddeutsche Immobilienfirma war damals der Sanierungsträger der Stadt Achim. Damit die Anspacherstraße und ein neuer Geschäftsbereich gebaut werden konnten, mussten die alten Häuser weichen.
Am 9.1.1988, dem 50. Jahrestag der Reichspogromnacht, initiierten die Achimer Pastoren und Diakone einen Schweigemarsch vom jüdischen Friedhof zum alten Synagogenstandort. An diesem Abend stellten sie eine Gedenktafel vor, die am einstigen Synagogenstandort aufgestellt werden sollte. Sie trägt die Inschrift:
Zum Gedenken an unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger
Und an die Synagoge, die hier gestanden hat.
Am 9. November 1938 wurde sie mutwillig zerstört.
Vergessen führt in die Verbannung.
Erinnern ist jedoch das Geheimnis der Befreiung.
In dieser Zeit gründeten einige Bürgerinnen und Bürger und mehrere Organisationen – darunter auch die Geschichtswerkstatt – eine Initiative zur Errichtung eines Mahnmals. Im Juli 1989 bekam zunächst der kleine Weg von der Obernstraße zur Anspacherstraße den Namen „Synagogenweg“, und das Gebäude, in dem sich einst die Synagoge befunden hatte, wurde abgerissen.
Grundgedanken, Hauptelemente der Gestaltung
Der Achimer Stadtrat befasste sich 1990 mit der Gestaltung eines Denkmals. In einem zweiseitigen Schreiben an die Mitglieder des Gremiums wurden „die Grundgedanken und Hauptelemente der Gestaltung“ ausführlich erläutert. Das Mahnmal wolle „die Erinnerung an die jüdische Gemeinde und an diesen Ort wiedererwecken“. Ziel sei es, „einen Moment der Besinnung an die Ereignisse zu bewirken, die bis heute und in Zukunft nicht vergessen werden sollen“. Es gebe zwar keine Fotos, mit Hilfe alter Katastereintragungen konnten die genaueren Umrisse jedoch rekonstruiert werden. Und weiter heißt es in den Ausführungen an den Stadtrat:
„Die Gebäudeumrisse werden in einem Teilbereich mit schlichten Mauerstücken nachgezeichnet. Die Mauerart ist nicht identisch mit dem damaligen Synagogengebäude und will es auch bewusst nicht sein, um nicht in die Nähe einer fälschlichen Rekonstruktion zu geraten. Unterschiedliche Mauerhöhen und offen gelassene Ecken sollen andeuten, dass hier kein neuer Raum, keine Geborgenheit entsteht, sondern die Mahnung an eine Zerstörung. Der Gebäudeumriss muss auch schon deshalb unvollständig bleiben, da im nördlichen Teil die neue Straße die Figur überschneidet.“
Für die Eckpunkte wurden schlanke Pyramideneichen ausgewählt, „der symbolische Baum der Trauer und die zum Himmel strebende Markierung einer irdischen Stelle“. Auch die Höhe der drei Mauern wurde mit Bedacht gewählt. Die kurze hohe Mauer sei „wie ein großer dunkler Schatten“.
Das alles sind interessante und gut nachvollziehbare Gedanken. Aber ohne Vorwissen erschließen sie sich den Betrachtenden nicht alle sogleich.
Auf die Verbrechen in der Reichspogromnacht weist außerdem der etwa mittig zerbrochene Ziegelstein mit einem ebenso mittig zerbrochenen Davidstern-Relief hin. Der Stein sei dort irgendwo gefunden worden und stamme vermutlich als Schmuckstein von der Synagoge selbst oder einem benachbarten Haus. Ein Postbeamter habe den Stein jahrelang aufbewahrt und 1989 nach Aussagen von Karlheinz Gerhold der Geschichtswerkstatt übergeben.
Einweihung des Mahnmals
Am 21. Mai 1990 war es schließlich soweit: Das Synagogen-Mahnmal wurde im Beisein vieler Achimerinnen und Achimer, von örtlichen Politikern, von Vertretern des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen und der Jüdischen Gemeinde im Land Bremen feierlich eingeweiht. Der damalige Landesrabbiner Henry Brandt und Ex-Bürgermeister Christoph Rippich enthüllten gemeinsam die Gedenktafel. Der Bürgermeister ergriff als erster das Wort und erinnerte: „Es waren keine Fremden, sondern Leute von nebenan, die verfolgt und ermordet wurden. Hier an dieser Stelle hatten sie mit der Synagoge einen Mittelpunkt ihres Glaubens geschaffen, der entweiht und zerstört wurde.“ Es sei schwer zu verstehen, dass sich auch in Achim „dieser menschenverachtende Wahn ausgebreitet habe“.
Henry Brandt betonte in seiner Rede: „Gerade in diesen Zeiten der Euphorie fällt das Vergessen anderer Ereignisse in Deutschland leicht und das Gedenken schwer.“ Preis des Vergessens sei es aber, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Das Mahnmal könne dazu beitragen, dies zu verhindern. Vielleicht würde es Passanten einmal dazu bewegen, „für ein Momentchen anzuhalten“ oder auch vorbeizugehen und sich eines Bibelwortes zu erinnern: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du.“ Er deutete aber auch an, dass die Errichtung eines Mahnmals mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Tat längst überfällig gewesen sei.
Aus der Verankerung gerissen und gestohlen
Leider wurde das Mahnmal etliche Male von Unbekannten beschädigt. So wurde die Kupfertafel mehrfach beschmiert und musste darum vom Bauhof wiederholt gereinigt werden. Als Schutzmaßnahme brachte man schließlich eine Plexiglasscheibe vor der Tafel an. Damit nicht genug: Im April 2008 rissen Unbekannte die Gedenktafel aus der Verankerung und nahmen sie mit. Der Achimer Kurier berichtete am 18.4.2008 ausführlich über die Schändung. Dabei wandten die Täter brachiale Gewalt an, denn das Schild war in Beton gedübelt und mit einem Anker gesichert. Die Polizei wurde eingeschaltet und Strafanzeige gegen Unbekannt erstattet. Die Täter konnten jedoch nicht ermittelt werden, und auch die Gedenktafel blieb verschwunden. Die Stadt musste schließlich eine neue Tafel bestellen und anbringen lassen.
Einen weiteren Vorfall gab es im Jahr 2013. Am 22. April berichtete die Presse darüber, dass die schützende Plexiglasscheibe mutwillig zerschlagen wurde und ersetzt werden musste. Nach den Tätern wurde auch diesmal vergeblich gefahndet.
Zur Weiterentwicklung des Mahnmals
Die Erinnerungskultur in Deutschland und damit auch der Blick auf Gedenktafeln veränderte sich Mitte der 90er Jahre durch das Projekt STOLPERSTEINE von Gunter Demnig. Weltweit soll das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus wachgehalten werden, indem vor ihrem letzten selbst gewählten Wohnort oder anderen zu bestimmenden Orten kleine quadratische Gedenktafeln aus Messing in das Gehwegpflaster eingelassen werden. In Achim wurden die ersten Stolpersteine 2005 verlegt. „Mit der Verlegung von Stolpersteinen in unserer Stadt geben wir den Menschen, die dem Nazi-Rassenwahn zum Opfer gefallen sind wieder einen Platz in Achim, in unserer Mitte“, heißt es in der Stolpersteine-Broschüre. „Mit jedem Stein heißen wir die Nachkommen derer, die unter der Nazi-Herrschaft Unfassbares erlitten haben, in unserer Stadt willkommen.“
Opfer haben Namen
Auf der Gedenktafel am Mahnmal fehlen die Namen der Opfer, und auch die Täter werden nicht benannt. Das war der Ausgangspunkt für einen Arbeitskreis (Ralph Spill, Edith Bielefeld, Manfred Brodt, Silke Thomas, Ute Barth-Hajen, Elke Gerbers) , der im Oktober 2024 in Achim entstand und sich die Weiterentwicklung des Mahnmals zur Aufgabe machte. Der in der Geschichtswerkstatt tagende Arbeitskreis entwarf schließlich eine zweite Gedenktafel. Umgesetzt wurde das von der Achimer Firma „Die Schrift Achim“. Die Tafel wurde in der Mitte der langen Basaltsteinmauer aufgehängt und trägt diese Inschrift:
NIE WIEDER!
An dieser Stelle stand von 1864 bis 1938 eine Synagoge. In der Reichspogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 wurde das jüdische Gotteshaus zerstört. Die Achimer Jüdinnen und Juden wurden in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933 bis 1945 gedemütigt, ihrer Bürgerrechte und ihres Eigentums beraubt, verfolgt, verschleppt und in Vernichtungslagern ermordet.
Zur Erinnerung an die Jüdische Gemeinde Achim
Die zweite Häfte der Tafel erhält die Überschrift: SIE LEBTEN UNTER UNS. Hier werden alle Achimer und Achimerinnen jüdischen Glaubens namentlich aufgeführt, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, deportiert, vertrieben, in den Selbstmord getrieben oder ermordet wurden.
Ausgewählt wurde diesmal eine Aluminiumverbundplatte in der Größe 150 cm x 90 cm. Die Inschrift wurde digital auf Vinylfolie gedruckt und soll etwa 50 Jahre haltbar sein. Bei Vandalismus wäre es leicht möglich, die Folien abzuziehen und zu erneuern. Ein QR-Code auf der Tafel weist zur Homepage der Geschichtswerkstatt und vielen Hintergründen zum bedrückenden Thema.
Die alte Gedenktafel bleibt erhalten, damit den Betrachtenden deutlich wird, warum und wie das Mahnmal weiterentwickelt wurde. Denn die Inschrift einer Gedenktafel ist immer ein Spiegel ihrer Zeit.
Am 8. Mai 2025, dem 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges und der Nazi-Diktatur, weiht Achim die neue Gedenktafel ein bei einer Feierstunde mit Wortbeiträgen und Musik.
Angesichts des erstarkten rechten Extremismus und Populismus und der vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuften AfD wird immer wichtiger, dass die Erinnerungen an den Holocaust und auch an die damit verbundenen grauenvollen Geschehnisse in Achim nicht verblassen. „NIE WIEDER IST JETZT!“
Ralph Spill
Literatur- und Quellenverzeichnis:
• Hermann Deuter/Joachim Woock: Es war hier, nicht anderswo! Der Landkreis Verden im Nationalsozialismus. Edition Temmen, 2016.
• Niedersächsisches Landesarchiv, Abteilung Stade: Akten im Rahmen der Rückerstattung des betreffenden Grundstücks bzw. der Wiedergutmachung für die Vertreter der ehemaligen jüdischen Gemeinde, NLA ST Rep. 171 Verden Rückerstattung, acc. 2009/087 Nr. 787 (ca. 110 Blatt, z. T. beidseitig beschrieben) sowie NLA ST Rep. 210 Nr. 1807 (ca. 60 Blatt, z. T. beidseitig beschrieben).
Vielen Dank an Dr. Thomas Bardelle und Team!
• Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum. Achim (Niedersachsen)
• Herbert Obenaus: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen“, Band I, 2005, Wallstein Verlag
• Stadt Achim: Verlegung der Stolpersteine. 1. Oktober 2021.
• Diverse Zeitungsartikel aus Achimer Kreisblatt und Weser Kurier.
Dank an die Achimer Firma „Die Schrift“ für ihr Engagement!
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Foto oben: Focke Strangmann, Weser-Kurier
Foto unten : Michael Mix, Achimer Kreisblatt
Manfred Brodt
Fotos: Focke Strangmann /Weser-Kurier Ensemble Sholem
Fotos v. oben bzw. links: Jalo Waja, Vizepräsidentin des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen mit Mikro, links Ute Barth-Hajen, Ratsvorsitzende der Stadt Achim, Edith Bielefeld, Renate Witzel-Diekmann und Ralph Spill mit Sholem.
Probehängen für die geplante Gedenktafel mit Silke Thomas und Edith Bielefeld. Foto: R. Spill